Welchen Wert hat der Mensch? (Weihnachtliche) Gedanken zur Digitalisierung

22. Dezember 2017

Kurz vor einem Vortrag für Schulleiter/innen und schulische Führungskräfte in Halberstadt (Sachsen-Anhalt) – der Vorredner war gerade noch am Wort – stellte einer der Teilnehmer die “einfache”, aber sehr grundsätzliche Frage ins Plenum, was denn die Digitalisierung, von der da immer die Rede wäre, eigentlich genau sei. Ich hatte noch ein paar Minuten Zeit, in denen ich eine “spontane Phänomenologie” der Digitalisierung entwarf und in meine Präsentation einbaute, und die ich zwischenzeitlich auch in Artikelform weiter ausgearbeitet habe. Hier die aktuelle Version – und es ist nicht schwer, den jahreszeitlichen Kontext herzustellen …

Kennen Sie PIAAC? Wenn Sie jetzt an PISA und die OECD denken, dann denken Sie in die richtige Richtung. Die PIAAC-Studie ist gewissermaßen die ältere Schwester der PISA-Studie und beschäftigt sich mit Lese-, alltagsmathematischen sowie technologiebasierten Problemlösekompetenzen Erwachsener. Ende Oktober 2017 wurde in Paris als PIAAC-Begleitstudie das Buch Computers and the Future of Skill Demands vorgestellt. Die Details gibt es hier.

Die Zusammenfassung ist so dramatisch wie ernüchternd. Bereits auf heutigem Stand der Technik können 87% der von der PIAAC-Studie gemessenen Kompetenzen auch von Künstlicher Intelligenz KI, also von Computern erbracht werden. Aktuell. Im Jahr 2017. Dirk Van Damme, Leiter der OECD EDU Skills Beyond Schools Division stellt darauf nur lapidar fest: „More and more of the same is not going to be the answer.” Es kann in der Bildung nicht mehr darum gehen, um ein paar “PISA-Punkte“ besser zu werden. Um die Zukunft, die wesentlich durch die Digitalisierung geprägt sein wird, meistern zu können, muss man das Schulsystem radikal über- und wohl auch neu denken.

Digitalisierung und das Bildungswesen – eine Stichwortliste

Digitalisierung – was ist das eigentlich? Diesen schillernden, durchwachsenen (der Lack ist ja mittlerweile ab), ambivalenten Begriff umreißt beispielsweise die britische Regierung in Bezug auf die Entwicklung neuer, digitaler Verwaltungsservices wie folgt: „By ‘transformation’ we don’t mean making websites. We mean everything.“

Everything.

Die folgende „Durchbuchstabierung“ des Digitalen – eine von vielen möglichen – hinsichtlich der Transformation des Bildungswesens sowie die dabei genannten Quellen soll Pädagoginnen und Pädagogen dabei unterstützen, klarer durchzublicken und sich, wo erforderlich oder erwünscht, im Detail vertiefend zu informieren. Die beigefügten Leitfragen versuchen die „Brisanz“ des jeweiligen Digitalisierungsaspekts auf den Punkt zu bringen.

1)     Digitale Administration: Das ist die erste Erscheinung der Digitalisierung – und die ist seit mehr als einem halben Jahrhundert gang und gäbe. Im schulischen Bereich reicht deren Anwendung von PH-online über digitale Dienstreiseabrechnungen bis zum elektronischen Klassenbuch. Aufs Erste effizient und hilfreich hat auch diese Facette der Digitalisierung durch die Erhöhung der Kontrollierbarkeit ihre Ambivalenz. Die Notwendigkeit entsprechenden Schutzes sensibler Daten (Prüfungsergebnisse und Leistungsbeurteilungen etc.) ist darüber hinaus evident – Präzedenzfälle haben entsprechend sensibilisiert.

2)     Digitale Kompetenzen: Seit 2012 wird an den Neuen Mittelschulen das sog. digi.komp8-Konzept umgesetzt; mit der (aktuell noch im Entwurfsstatus befindlichen) Verbindlichen Übung Digitale Grundbildung wird aktuell sowohl der gesetzliche Rahmen nachgebessert als auch die Verbindlichkeit auf alle Schularten ausgedehnt.
Mit den digitalen Kompetenzen ist es wie mit dem Straßenverkehr. Egal, ob man ihn liebt oder wegwünscht: Die Schüler/innen müssen mit dieser Realität umgehen können und es ist Pflicht der Schule, flächendeckend und in guter Qualität genau das sicherzustellen. Die gute Nachricht: Das Ausmaß dieser Aufgabe ist definitiv „endenwollend“ – bei guter Organisation und Arbeitsteilung sowie entsprechender Personalentwicklung kann das jede Schule spätestens über eine Entwicklungszeit von mehreren Jahren gewährleisten. Mehr zu diesem Aspekt der Digitalisierung: www.digikomp.at bzw. auf europäischer Ebene: DigComp.

3)     Informatik: Kein Computereinsatz ohne Informatik. Aber abgesehen von der Tatsache, dass viele der zukünftigen Berufe definitiv informatische Kompetenzen und die Fähigkeit zum „computational thinking“ brauchen: Versteht man ohne Grundverständnis der Informatik eigentlich die Welt noch ausreichend? Eher nicht. Das österreichische Bildungsministerium antwortet auf diese Herausforderung übrigens mit dem großen Projekt Denken lernen, Probleme lösen – Digitale Grundbildung in der Primarstufe.
Wenn Sie jetzt nicht überzeugt sind und/oder gerne mehr wissen möchten: Lesen Sie unbedingt Mehr als 0 und 1: Schule in einer digitalisierten Welt von Beat Döbeli Honegger!

4)     Besser lernen: Recherchieren ohne Google und Wikipedia? Selbstständig lernen ohne Medien in allen Sprachen dieser Welt, wie sie eben übers Internet zu finden sind? Die Liste lässt sich lange fortsetzen und es sieht mehr und mehr so aus, dass ohne ein Mindestmaß an Integration spezifischer digitaler Medien und Werkzeuge in den jeweiligen Fachunterricht man diesen als „nicht mehr gut genug“ bezeichnen muss. Wobei unbestritten und wissenschaftlich abgesichert ist, dass das Aufstellen von IT alleine gar nichts nützt und eher negative Effekte zeitigt. Es kommt auf die Konzepte, die Begleitung, den tatsächlichen pädagogischen Einsatz an. Mehr zu diesem Thema finden Sie in der digitalen Sonderausgabe von Erziehung und Unterricht 7-8 2017: Lernen und Lehren mit Technologien – der Artikel ab S. 4 widmet sich ausdrücklich der Frage: Ist Unterricht ohne digitale Medien und Werkzeuge noch gut genug? Auch das österreichische E-Learning 1×1 bietet wertvolle Hinweise und einen strukturierten Einstieg in die Thematik. Nach wie vor lesenswert ist der IMST Newsletter #43 Fachdidaktik meets digitale Medien. Sie unterrichten mit Tablets oder Handys? Dann lautet die brandneue (Online-)Quelle Ihrer Wahl http://www.gestalte.schule/

5)     „Digital leben“: Social Media und Handy als ubiquitäre Phänomene. Alexa und Co. als freiwillig im Wohnzimmer platzierte „Abhörgeräte“, für die man auch noch zahlt. Oder doch die Speerspitze für Smart Homes, die uns das Leben erleichtern und verbessern? Der Alltag „digitalisiert“ sich zusehends. Und damit auch die „ganz normalen Mechanismen“ der Sozialisation, der Persönlichkeitsentwicklung, der Konstruktion des Ich sowie des Bilds von den anderen und der Welt – weit über die Schule hinaus. Medienpädagogen und Soziologen (u.a.) versuchen beispielsweise dieser manifesten, aber schwer zu fassenden Entwicklung auf den Zahn zu fühlen. Stellvertretend für viele seien hier Hartmut Rosa (Resonanz: Eine Soziologie der Weltbeziehung) und Andreas Reckwitz (Die Gesellschaft der Singularitäten: Zum Strukturwandel der Moderne) genannt. Vorsicht: Nur für ambitionierte Leser/innen 😉

6)     Menschliches Zusammenleben mit Robotern und Künstlicher Intelligenz: Kennen Sie PIAAC? … Wir wären wieder beim eingangs in diesen Artikel erwähnten Studie über die Ersetzbarkeit menschlicher durch Künstliche Intelligenz. Natürlich kann kein Mensch vorhersagen, wie genau sich die Zukunft entwickelt. Dramatische Transformationen hat die Welt schon viele gesehen. Und auch Hufschmiede haben ihr jahrtausendealtes Gewerbe verloren und umsatteln müssen. Pardon … umsatteln … auch so ein Wort von „damals“. Während in der industriellen Revolution aber immer noch Menschenmassen als Bediener/innen von Maschinen und als Verbraucher/innen (Henry Ford hat seine Arbeiter/innen gut fürs Ford-T-Montieren bezahlt! Schließlich musste ja jemand die Autos auch kaufen!) und – leider – Kanonenfutter gebraucht wurden: Warum soll jemand, der es sich leisten kann, statt Menschen Roboter und Computer einzusetzen, dieses nicht auch tun? Und wird es eine Logik zur Frage menschlichen Wertes auch abseits der Überlegung geben, dass man „irgendwie“ auch Konsumentinnen und Konsumenten mit Geldmitteln zum Kaufen all der schönen, neuen, smarten Produkte ausstatten muss? Vertiefung gefällig? Yuval Harari: Sapiens und (insb. was die Zukunft betrifft) Homo Deus. Was insbesondere den Bereich der Bildung betrifft (denn: Mehr desgleichen wird uns in Zukunft nicht wesentlich weiterbringen), so lohnt es sich wieder einmal bei den Finnen nachzuschauen: Phenomenal Education lautet das Stichwort. Oder aber auch weltweit – New Pedagogies for Deep Learning.

Juristischer Nachgedanke: Der Besuch im Supermarkt und der Kauf eines Bechers Joghurt dort ist so einfach, selbstverständlich und insb. abgesichert, dass man nicht daran denkt, auf welche gewaltigem juristischem „Gebirge“ diese alltägliche Sicherheit ruht. Die ab 25.5.2018 auch einklagbare Datenschutzgrundverordnung DSGVO der EU stellt einen höchstwahrscheinlich bedeutenden Schritt der „juristischen Erschließung“ des „digitalen Wilden Westens“ dar, ist aber nur einer von vielen noch ausständigen – und wichtigen! – Schritte. Das betrifft auch den Bildungsbereich …

Wem nützt die Digitalisierung? Ein abschließender Hinweis für die Pädagogische Profession

Ich habe Pädagoginnen und Pädagogen in den Jahrzehnten als “widerständiges Völkchen” kennengelernt. Dieser gewissermaßen strukturell verankerten Widerständigkeit kann ich (insbesondere in ihrer reflektierten, wohlbegründeten, menschfreundlichen Erscheinungsform – die geneigte Leserin, der geneigte Leser weiß, was ich meine 😉 „in Zeiten der Digitalisierung“ mehr und mehr Positives abgewinnen. Damit ist keinesfalls Verweigerung aus Bestemm oder Unlust, sich mit Neuem auseinanderzusetzen gemeint. Die Bildung zur sicheren und kritischen Nutzung der IT wurde von der EU schon 2006 festgehalten – und das ist Pflicht. Ich meine an dieser Stelle eine von buntem, elektrischen Glitzer und möglichen Return-on-Investments nicht zu bestechende Grundhaltung, die einerseits die vielen Cui-bono-Fragen nicht müde zu stellen und andererseits immer von Interesse an und Liebe zu den Menschen getragen wird: insbesondere in ihrer Erscheinungsform als Kinder.

PS: Gemeinsam fürs Lernen – weil das die Zusammenarbeit aller braucht!

Unter diesem Motto hat das Future Learning Lab Wien (FLL.wien) vor ca. zwei Monaten seine ganz realen Pforten im Haus 5 des Campus der Pädagogischen Hochschule Wien geöffnet. Wenn Sie nach Veranstaltungen und kompetenten Personen zu dieser Thematik suchen – bei uns werden Sie fündig!

PPS: Time for a movie!?

Vielleicht möchten Sie in den Weihnachtsferien neben der vorgeschlagenen Lektüre auch zwei Stunden dem Thema Digitalisierung in Filmform widmen? Schauen Sie sich Ex Machina an!

Mit den besten Wünschen zum Weihnachtsfest und fürs neue Jahr!
Thomas Nárosy

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