Phänomenal. Exkursion Wien – Helsinki und retour

3. März 2018

Marjo Kyllönen zu Gast in Wien, Hermann Morgenbesser zu Gast in Helsinki. Und ein gemeinsames Thema: Lehren und Lernen im Zeitalter der Digitalisierung. Wie einander eine zeitgleich stattfindende Exkursion nach Finnland und ein Symposium der Uni Wien ergänzen und bestätigen. Welche Perspektiven sich daraus für das FLL.wien ergeben. Und was das mit den Phänomenen zu tun hat.

“Der virtuelle Raum bleibt von leiblichen Wesen grundsätzlich unbewohnbar.”

Für solche und andere, ähnlich dichte Sätze ist Käte Meyer Drawe, emeritierte Erziehungswissenschafterin der Ruhr- Universität Bochum, bekannt. Die Uni Wien hatte sie dieses Woche als erste Keynote-Sprecherin zum Symposium Retten uns die Phänomene? – Lehren und Lernen im Zeitalter der Digitalisierung eingeladen. Unter dem Titel Im Netz: Lernen in einer digitalisierten Gesellschaft skizzierte sie als Phänomenologin, wie die Digitalisierung unsere Beziehung zur Welt verändert. Obwohl es für ein “abschließendes” Urteil noch viel zu früh wäre – schließlich habe Kant beispielsweise das vor 200 Jahren in breiten Schichten in Mode kommende Lesen von Romanen ebenfalls scharf kritisiert, und rückblickend sähen wir im Lesen einen Segen für die Bildung – ließen sich einige Entwicklungen bereits an bestimmten Indizien erkennen, und hinsichtlich dieser Entwicklungen sei Vorsicht angezeigt.

Das Digitale käme uns beispielsweise als “unverhandelbare, richtige, objektive Realität” (als Wetterbericht, Navi-App, Lexikon etc.) entgegen, obwohl wir – bei näherem, informierten Blick – wüssten, dass hinter diesen Realitäten hinterfragbare Daten und Algorithmen stünden. Diese Realitäten förderten unsere Selbstständigkeit, die uns mehr und mehr das Höchste zu sein schiene. Das ginge aber in eine Richtung, bei der man sich ernsthaft fragen müsse, ob man diese Entwicklung fürs menschliche Zusammensein haben wolle: “Manchmal hat man den Eindruck, dass man sich lieber Maschinen statt fürsorglicher Menschen leistet.” Und mit der Technik könne man auch im Alter weiterhin „unabhängig“ sein. Der Anschein von Autonomie werde aufrechterhalten – die Grenzen zwischen Mensch und Technik verschwänden und es würde unkenntlich, wo das eine endete und das andere begänne. Die “Selbstverwanzung” und sog. “Wearables” sowie mehr und mehr in den Körper eindringende Technologien machten das Paradox noch deutlicher: Man meint sich immer “selbstgesteuerter” und wird in Wirklichkeit immer mehr “fremdgesteuert”.

Welche Konsequenzen habe das fürs Lernen? „Lernen ist ein Widerfahrnis, das zunächst unsere Hilflosigkeit deutlich macht.“ Eine Hilflosigkeit, in der wir grundsätzlich auf andere Personen: LEHRpersonen angewiesen seien. In Wirklichkeit hielte kein Lernender die entsetzliche Lage, sich grundsätzlich selbst organisieren zu müssen, aus. Wenn sich jetzt Selbststeuerung, Eigenständigkeit und Autonomie im Zeitgeist immer wichtiger machten, käme dadurch das Lernen selbst in Bedrängnis.

“Selfdirection is like casting a child in the water, and let’s see, if it will survive.”

Marjo Kyllönen bestätigte mit diesem Satz die zentrale These von Meyer-Drawe. Kyllönen ist Head of Education Development Services in Helsinki und ihr Vortrag war dem Thema Education for the Future – Phenomenon based learning as a tool to promote 21st Century skills gewidmet. Der Zusammenhang aus Sicht der Veranstalter/innen des Symposiums ist evident: Wenn die Digitalisierung die Beziehung zur Welt auf problematische Weise verzerre, dann müsse dem durch die Besinnung und Fokussierung auf die Phänomene entgegengehalten werden. Und tatsächlich: Der aus dieser Perspektive global schweifende Blick fällt – Überraschung! – wieder einmal auf die … Finnen!

Die Grundfrage der jüngsten finnischen Bildungsreform, die u.a. 2016 zu einem neuen Curriculum mit phenomenen based learning (sic!) im Zentrum geführt hat, könnte man auch mit “beyond PISA” zusammenfassen. Die Finnen fragten sich nämlich nicht, was sie tun müssten, um weiterhin tolle PISA-Ergebnisse zu erzielen, sondern, was ihren Kindern helfen würde, in Zukunft zu bestehen. Exzellenz in der Bewältigung von Aufgaben, die in der Vergangenheit wichtig waren, würde da nämlich nicht weiterhelfen.

Ein Schlüssel des neuen Narrativs wäre “children trying to solve real world problems together.” Aber Vorsicht! “Phenomenon based learning is not saving us. We need a systemic understanding. We need a profound pedagogical understanding. (…) We have to understand the deep pedagogical meaning. It’s more than project learning!” Lernen geschähe in den Dimensionen: holistisch | authentisch | kontextuell | problembasiert | fokussiert auf den Lernprozess. Leadership auf allen Ebenen sei im Übergang vom alten ins neue Paradigma die Gelingensbedingung schlechthin.

Dass die finnische Entwicklung natürlich “digital-inklusiv” ist, darüber muss man nicht große Wort verlieren. Das ist unverzichtbar, selbstverständlich. Aber auf den Kontext, die Prioritäten und die gesamte Balance kommt es eben an.

Eine gute Zusammenfassung ihrer Keynote bietet übrigens Kyllönens TEDx Talk in Hamburg …

Überhaupt: die Phänomene. Wie schon eingangs erwähnt sprachen eine Phänomenologin und eine der Protagonistinnen des neuen finnischen Lehrplanparadigmas nicht von ungefähr hintereinander. Aber Achtung! Kyllönen: “Phenomenon based learning is not saving us. We need a systemic understanding.” Dieses Verständnis (u.a. was eigentlich mit “Phänomen” gemeint wäre) versuchte man im Verlauf des Symposiums in vielen Diskussionen und Präsentationen zu vertiefen, nicht ohne in der Schlussrunde festzustellen, dass das alles erst ein Anfang gewesen sein könne … Und damit Ortswechsel nach Finnland.

“Das Future Learning Lab im richtigen Leben!”

Zitat eines staunenden Hermann Morgenbesser über eine phänomenale neue Schule, nämlich die Kalasatama-Schule – eine inklusive Gesamtschule für 6-15 jährige, in der auch das Essen gratis ist. Was an der Uni Wien Thema war, war in Helsinki also im Echtbetrieb zu erleben.

Kalasatama ist ein neuer Stadtteil in Helsinki. Einst ein Industrie- und Hafenstandort, wird er für den Wohn-, Einzelhandels- und Bürobereich neu entwickelt. In dem innovativen Gebäude befinden sich eine Tagesstätte und eine Gesamtschule für die Klassen 1 bis 9 in einer funktionalen Einheit. Die Schule sollte bewusst als einladendes und zugängliches öffentliches Gebäude wirken, und so hebt sich das fröhliche Gebäude deutlich von den umliegenden Betonblöcken ab.

In dieser Schule kann man jetzt schon erleben, welches Potential beispielsweise in einer Institution wie dem FLL.wien stecken könnte, wenn es sich entsprechend weiter entwickelt: Innovative Zusammenarbeit von öffentlicher Hand und Unternehmen (in Kalasatama konkret mit xEdu, einem StartUp-Accelerator) und eine Stadt, die die Schüler/innen als verlängertes Klassenzimmer erleben.

Gut, dass es die Schule gibt!

Zurück nach Wien und zu den Schlussworten, die den beiden Keynote-Vortragenden des Symposiums an der Uni Wien gehören sollen. Marjo Kyllönen:

“School – essential for social inclusion and for belonging into the society. We can’t predict the future – we can create it.”

Käte Meyer-Drawe:

„Es ist leicht über die Schule zu schimpfen; dazu braucht man nicht viel Grips.“ 😉

Thomas Nárosy

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